Reduktion des Menschen auf ein Formular?

Das Internet hat uns eine wunderbare Vernetzung vielseitigster Informationen beschert. Leider aber auch den Wunsch, immer mehr Informationen schematisch zu gewinnen und auszuwerten. Geht es um Informationen sachlicher Art, ist das Internet ein grosser Gewinn. Geht es um Menschen, darf die Frage gestellt werden, ob das Individuum Mensch überhaupt durch schematische Darstellungen richtig erfassbar ist. Die Psychologie hat schon lange festgestellt, dass in einem Menschen nicht allein eine einzige feststehende Persönlichkeit vorhanden ist. Jeder Mensch passt sich der umgebenden Situation an. Entsprechend agiert und reagiert er oft anders, als von seinem Charakter erwartet wird. Das hat auch zum bekannten Buchtitel geführt: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele“? Bekannt ist auch, dass ein Mensch im Beruf ein angepasster Typ sein kann, privat aber ein Diktator, oder umgekehrt.
Statt diese menschliche Vielfältigkeit anzuerkennen, verfallen Personalrecruiter in den Wahn, möglichst schematisch Kandidaten zu erfassen und durch den Computer die Auswahl abklären zu lassen. Entsprechend werden komplexe Online-Bewerbungsformulare kreiert, deren Ausfüllung von jedem Kandidaten ein bis zwei Stunden (oder sogar mehr) Zeit erfordern. Seitens der Personalrecruiter wird dann ein Anforderungsprofil definiert, das einen perfekten Vergleich der Angaben der Kandidaten mit den Anforderungen erlaubt. Damit ist die Vorauswahl nicht mehr Sache des Recruiters, sondern des Computers, der genau ausrechnet, in wie vielen Prozenten der Kandidat das Anforderungsprofil erreicht. Somit kann der Recruiter allen mit weniger als 90% Übereinstimmung abschreiben. Selbstverständlich auf Knopfdruck mit vorbereitetem Text. Ist doch clever, oder nicht? Wieso trotzdem noch fast alle Unternehmen einen selbstgestalteten Lebenslauf verlangen, ist rätselhaft. Zeigt aber, dass man spürt, dass Individuum und Automatik nicht unter einen Hut zu kriegen sind.

„Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt!“ Dieser meistgelesene Satz aus

Unternehmensbroschüren muss geändert werden in: Bei uns steht das Formular Mensch im Mittelpunkt. Kandidaten sind keine Menschen, sondern Informationen in einem Formular. Gemäss diesen Informationen geht der Daumen rauf oder runter. Steht in der Anforderung für einen Wirtschaftsfachmann: „Technische Grundausbildung“ und bringt er sie nicht mit, dann weg. Dass aber vielleicht dieser Wirtschaftsfachmann als Hobby das Restaurieren von Autos betreibt, ist nicht aufgeführt. So werden durch das Schematisieren des Recruitings viele wertvolle Menschen, die dem Unternehmen großen Erfolg bringen könnten, aussortiert.
Es gibt viele individuell starke Menschen, die in beruflichen Situationen – auch wenn sie nicht speziell dafür ausgebildet sind – richtig handeln. Das beweisen uns die vielen Start-up-Unternehmer, die jedes Jahr das Abenteuer wagen. Es sind nicht ausgebildete Unternehmer, die alle Schattierungen der Unternehmensführung kennen, es sind Menschen mit unternehmerischem Mut, die viele Probleme mit „gesundem Verstand“ lösen. Ohne dafür ausgebildet zu sein, ohne ein Diplom dafür vorweisen zu können, ohne Praxisnachweis in einem Formular. Hätten Sie sich dafür bewerben müssen, wären sie elektronisch eliminiert worden.
Aber das sind Menschen, die in Unternehmen Grosses bewirken können. Das sind die Leistungsträger! Nicht diejenigen, die vor jeder Aufgabe Angst haben und aussagen, dafür nicht ausgebildet zu sein. Sie bringen unzählige Ausweise von Weiterbildungen mit und erfüllen viele Arten von Anforderungsprofilen. Sie bringen viele Erfahrungen aus vielen kurzfristigen Anstellungen mit. Sie erfüllen damit zu 95% die Anforderungen eines digitalen Profils. Doch ob sie ihr Wissen in die Praxis umsetzen können, ob sie nützliche, eigene Ideen konkretisieren können, ob sie auch im Stress den Überblick behalten können, diese äusserst wichtigen Kandidateneigenschaften können nicht über ein Bewerbungsformular erkannt werden. Dafür braucht es ein Interview.                             jb