Sind Fehlentscheidungen entschuldbar?
Aufsehen erregende Selbstmorde von Top-Managern füllen die Schlagzeilen der Medien. Zürich Versicherung, Swisscom und andere Firmen geraten als Arbeitgeber in ein schlechtes Licht. Ihre hohe Leistungsforderung sei für den Tod der Top-Manager verantwortlich. Stimmt das wirklich?
Zuerst muss festgehalten werden, dass einzelne Fälle kein allgemeines Problem darstellen. Jeder Fall ist individuell ganz anders. Das einzige Gemeinsame ist, dass ein Scheitern eines Planes oder einer Strategie oder eines Vorgehens die Ursache war. Aber der Grund dafür muss nicht immer in der Firma gesucht werden. Es können auch private Angelegenheiten den Ausschlag gegeben haben. Aber initial war in allen Fällen das Nichterreichen eines gesteckten Zieles oder einer gescheiterten Vorstellung seitens des eigenen Ichs oder der Umgebung. Nicht jedermann hat das Selbstbewusstsein eines Jürgen Schrempp, der bei Daimler-Benz mit Chrysler, Smart und Mitsubishi Milliarden fehlinvestierte, was den Aktienkurs von € 101,- auf € 35,- reduzierte und nachher sein Wirken als erfolgreiche Periode beschrieb. Viele Wirtschaftsführer sind viel sensibler. Das Scheitern führt zu Depressionen und Selbstvorwürfen. Und sind andere zu Schaden gekommen, entstehen Schuldkomplexe. In solchen psychischen Situationen kommt die Idee der Problemlösung durch Selbstmord auf.
Ein ganz wichtiger Grund ist aber auch, dass man in der heutigen Gesellschaft nicht scheitern darf. Die Gesellschaft verzeiht nichts. Der Erfolgreiche wird bewundert, derjenige, der einen Misserfolg erreichte, wird geächtet. Ob in Politik, Wirtschaft oder Kultur, zwischen angebetet sein und bespuckt werden entscheiden kurze Momente. Alle Angebeteten müssen damit rechnen, bei einem Scheitern verdammt zu werden. Entsprechend sind Ängste vorhanden, Verantwortung zu übernehmen. Für Absicherung wird mehr Energie aufgewendet, als für das Erreichen eines Zieles. Damit macht die Gesellschaft einen grossen Fehler. Jedermann kann einmal scheitern. Die Gesellschaft sollte ein
Scheitern als ein Ereignis betrachten, das als beispielhaftes Lehrstück zu gelten hat. Der Gescheiterte sollte für sein Beispiel, das ihm und andern eine Lehre ist, weder belobigt, noch geächtet werden, sondern man sollte ihm für sein Beispiel einfach danken und ihn für die Schadensbehebung einsetzen.
Als Personalberater stellte ich einem Inhaber eines mittelgrossen Betriebes einen Kandidaten mündlich vor und bemerkte: „Er bringt alle Voraussetzungen an Wissen und Erfahrungen mit, aber er hat mit einer eigenen Firma Konkurs gemacht“. Der Inhaber meinte, dass er den Kandidaten gerne sprechen möchte, denn er stelle gerne Menschen ein, die einmal auf die Nase gefallen seien. Erstens seien sie aktiver und innovativer und zweitens hätten sie aus Fehlern gelernt. Makellose Lebensläufe seien Zeichen dafür, dass wenig geleistet worden sei. Wer viel arbeitet, macht viele Fehler. Wer wenig oder gar nichts tut, ist fehlerfrei.
In vielen Firmen gilt heute eine Unternehmenskultur, die bestimmt, dass Fehler gemacht werden dürfen, wenn daraus die Lehren gezogen werden. Der Fehlerhafte muss auch alles dafür tun, dass schadhafte Auswirkungen seines Fehlers umgehend begrenzt werden. Das bedingt, dass auf eigene Fehler schnell reagiert wird. Schlimm ist, aus Angst vor einem persönlichen Imageschaden am Fehler festzuhalten und den Fehler zu verteidigen.
Wir leben in einer permanenten Evolution, hervorgerufen durch unsere Innovation, die ständig neue Ideen, Wege, Technologien und Einstellungen erzeugt. Um uns lebt ebenso die Natur in einer Evolution. Pflanzen und Tiere verändern sich, neue Arten entstehen, bestehende Arten überleben nicht. Die Natur hat schon viele Fehlentwicklungen erzeugt, die nicht lebensfähig waren. Wir Menschen sind natürliche Wesen und deshalb mit unseren Innovationen ebenso fehlerhaft. Betrachten wir doch ein Scheitern als einen natürlichen Umstand, aus dem wir Lehren ziehen können. jb